Helena Cing Deih Sian

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Helena Cing Deih Sian
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„Es fühlt sich manchmal so an, als könnte ich das Establishment mit dem Label `Diversität´ schmücken.“

Interview: Anke Schwarzer, 2024

Welche Orte und Räume in Hamburg kommen Ihnen in den Sinn, wenn Sie an die koloniale Geschichte und postkoloniale Gegenwart denken?

Zunächst fällt mir meine Forschung zu Myanmar ein. Dabei habe ich mich vor allem mit den größeren Zusammenhängen, mit der Makrobene der Postkolonialität beschäftigt. In den letzten acht Jahren habe ich in Stuttgart gelebt und mich dort intensiv mit dem Diskurs über Kolonialgeschichte auseinandergesetzt. Dennoch habe ich als Hamburgerin die Entwicklungen in dieser Stadt nicht aus den Augen verloren. Besonders aufmerksam wurde ich 2023 auf den Ideenwettbewerb zur Bismarck-Statue im Alten Elbpark. Auch wenn ich diesen Prozess nicht im Detail verfolgt habe, steht er für mich symbolisch für die Haltung der Stadtverwaltung in Fragen der Auseinandersetzung mit kolonialer Geschichte in der Stadt. Sie zeigt, wie wichtig, aber auch wie herausfordernd es ist, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Könnten Sie bitte ein Beispiel geben für eine solche Bildsprache oder für diese Art von Fassadenschmuck?

Die Statue steht mehr als ein Jahrhundert dort, genau an demselben Ort. Und in dieser langen Zeit ist in Hamburg städtebaulich, gesellschaftlich und wirtschaftlich wirklich viel passiert. Hamburg hat sich auch stadtbildlich rund um den Alten Elbpark verändert. Trotz zahlreicher Veränderungen ist diese Statue gleichgeblieben und ist, sinnbildlich und wortwörtlich, wie in Stein gemeißelt. Dieses große Denkmal ist eine sehr markante Landmarke.
Ich finde, man könnte diesen Prozess, der über 100 Jahre andauert, in Analogie sehen zur protektionistischen Einstellung seitens der Institutionen und Personen, die diese Erinnerung an diese Figur aus der Geschichte erhalten wollen. Alles andere an Veränderungen wird zugelassen und weitgehend akzeptiert, sei es in Bezug auf bauliche, ästhetische oder inhaltliche Veränderungen. Auch die Grünanlagen rund um die Statue haben sich gewandelt, und gerade wenn es um Bäume geht, ist es in Deutschland oft ein Politikum.
Ich sehe darin eine Diskrepanz zu der sehr verhärteten Haltung gegenüber manchen Objekten, Gebäuden oder Denkmälern, über die nun im Rahmen einer dekolonialen Erinnerungskultur diskutiert wird. Als studierte Stadtplanerin, die die Gesellschaft aktiv mitgestalten möchte, empfinde ich das als skurril.
Diese Intentionen derjenigen, die die Macht haben, die Bismarck-Statue zu bewahren, finde ich sehr deutlich, sehr dominant und prägend. Es gibt hier wieder eine der typischen Dissonanzen: Einerseits präsentiert sich die Stadt Hamburg nach außen „weltoffen“; andererseits hält sie an manchen Orten krampfhaft an einem alten Stadtbild fest, so dass es dort bis heute wie vor 100 Jahren aussieht. Man möchte sich der Welt präsentieren, man bezeichnet sich als „Tor zur Welt“ und gleichzeitig wird dies immer noch von der riesigen Bismarck-Statue flankiert. Das kann ich weder inhaltlich noch ästhetisch in meinem Kopf miteinander in Einklang bringen.

Liest man die Ausschreibung der Stadt, hatte der Wettbewerb 2023 die Intention, das Bismarck-Denkmal zu verändern und dort künstlerisch zu intervenieren. Wie haben Sie den Wettbewerb wahrgenommen und wie bewerten Sie die Ergebnisse?

Die Intention finde ich erstmal sehr positiv. Es wurde auch international ausgeschrieben, was einen Riesenpool an Ideen ermöglicht. In meiner Arbeit habe ich mich auch mit Gegenmonumenten beschäftigt. Viele der eingereichten Entwürfe ähnelten stark der Geste von sogenannten Paramonumenten. Dabei geht es darum, bestehende Monumente neu zu interpretieren und ihnen eine andere Bedeutung zu verleihen. Ich glaube, dass es auch darum ging, eine versöhnliche Auseinandersetzung mit dem Thema zu fördern, was auch im Ausschreibungstext angesprochen wurde.

Es war spannend zu beobachten, wie in dieser konkreten Situation reagiert wurde. Denn im globalen Kontext gab es 2020 die Black Lives Matter Bewegung, die unter anderem dazu führte, dass Statuen, die Kolonialherren ehrten, gestürzt, abgebaut oder demoliert wurden. Im Gegensatz dazu hatten die Beiträge aus dem Ideenwettbewerb einen versöhnlichen und kontextualisierenden Ansatz.

Zu der Zeit war ich noch im Studium und empfand es als eine große Herausforderung, einem denkmalgeschützten Monument eine neue Bedeutung zu widmen im Sinne einer längerfristigen Änderung, anstatt nur zu verleihen, was nur eine temporäre Intervention darstellen würde. Diese Ideen konnten nicht vollständig umgesetzt werden, da die bestehenden Denkmalschutzbestimmungen sehr umfassend sind und nur wenige Veränderungen zulassen.
Leider sind aber auch die symbolisch gehaltenen Entwürfe, die in der zweiten Runde des Wettbewerbs weiter ausgearbeitet werden durften, dann letzten Endes auch gar nicht zur Umsetzung gekommen.

Wie wäre Ihrer Ansicht nach der optimale Umgang mit dem Bismarck-Denkmal? Wie würden Sie vorgehen, wenn Sie Queen of Hamburg wären oder in einem Kollektiv die Möglichkeit hätten, das Vorgehen zu bestimmen?

Ich denke, dass Visionen eine wichtige Rolle spielen. In unserer diversen Gesellschaft benötigen wir eine gemeinsame Vorstellung davon, wohin wir wollen. Es ist wichtig, ein „Wir“ zu schaffen und dieses „Wir“ auch immer wieder zu überprüfen und herauszufordern. Dafür braucht es ein gesellschaftliches Engagement und einen entsprechenden politischen Willen, um hierbei einen Konsens zu finden. Daher ist der Fokus auf inklusive und partizipative Stadtplanung immens wichtig. Erinnerungskultur könnte dabei als ein Tool dienen.

Es gibt bereits Verfahren, wie Bewohnerinnen der Stadt in den Prozess einbezogen werden können, um über die Gestaltung öffentlicher Räume zu verhandeln. In der speziellen Thematik der „Postkolonialität“ finde ich es wichtig, neue Räume zu schaffen. Wenn ich eine einflussreiche Stimme oder Rolle hätte, würde ich gerne den vielen Diasporagemeinschaften, die in Hamburg leben, diese Räume öffnen. Dabei geht es nicht nur darum, physische Räume zur Verfügung zu stellen, sondern auch um die Schaffung bezahlter Stellen, um ihre Ideen einzubringen. Dies ist besonders relevant, da viele Mitglieder diasporischer Communities in Berufen tätig sind, in denen oft nur geringe Löhne gezahlt und lange Arbeitszeiten gelten, da bleibt in der Regel kaum Platz für jene stadtgesellschaftliche Beteiligung. Wenn wir als Stadtgesellschaft jedoch eine partizipative Erinnerungskultur fördern möchten, sollten wir gezielt bezahlte Stellen schaffen. Die Stelleninhaberinnen aus den Communities könnten als Brücke fungieren und zwischen der Mehrheitsgesellschaft, ihren Institutionen und ihrer eigenen Gemeinschaft kommunizieren.

Es ist wichtig, dass solche Maßnahmen am Beginn eines Prozesses stehen. Bei dem Ideenwettbewerb zum Bismarck-Denkmal fällt auf, dass viele der eingereichten Vorschläge von Personen, zumindest dem Namen nach, mit europäischem Hintergrund stammen. Dabei handelt es sich um ein Denkmal von Bismarck, der maßgeblich für die aggressive Kolonialpolitik in Afrika verantwortlich war.
Wenn man möchte, dass die betroffene Community aktiv in den Prozess einbezogen wird, stellt sich die Frage, wie man effektiv mit den Betroffenen kommunizieren kann. Ich habe das Gefühl, dass dieser Prozess oft elitär ist, insbesondere wenn es um die Architektur und Stadtplanung geht. Und im Bereich der Museen sind die Gestaltenden häufig nicht ausreichend sensibilisiert für postkoloniale oder koloniale Themen.

Inwieweit sehen Sie auch Möglichkeiten, jenseits dieser alten postkolonialen Spuren oder eben des Bismarck-Denkmals eigene empowernde Punkte in den Dekolonisierungsprozess einzubringen?

Ich finde die gesamte Thematik sehr komplex, und ich muss sagen, dass ich mich oft an dem Begriff „postkolonial“ störe. Obwohl es ein Fachbegriff ist, zeigt sich doch, dass Kolonialität in verschiedenen Formen weiterhin besteht. Es handelt sich also keineswegs um ein abgeschlossenes Kapitel, da sind wir uns einig.
Ich denke, ein möglicher Weg nach vorne wäre eine öffentliche Diskussion über Themen wie Restitution und Reparation. Diese Themen könnten einen erheblichen wirtschaftlichen Einfluss haben und den betroffenen Ländern helfen, ihre Infrastrukturen wieder aufzubauen und all das nachzuholen, was ihnen genommen und geraubt wurde. Ich glaube, dass es sehr wichtig wäre, wenn diese Themen öffentlich verhandelt würden. Wenn ich von „verhandeln“ spreche, meine ich nicht, dass dies bereits geschieht; es gibt viele Widerstände. Ein Beispiel dafür ist die Situation in den Niederlanden, wo das Königshaus beispielsweise nur begrenzte Schritte unternimmt, um sich mit der kolonialen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Eine Entschuldigung oder ähnliche Gesten scheinen oft das Höchste zu sein, was in dieser Hinsicht erreicht wird. Solche Themen müssen aber ernsthaft durch monetär basierte Maßnahmen angegangen werden.
Die verschiedenen diasporischen Gemeinschaften, die in Hamburg leben, habe eine bedeutende Rolle. Ich denke dabei vor allem an hier geborene oder migrantische Menschen, die sich mit dem Thema Dekolonisierung auseinandersetzen. Einige Menschen möchten mit bestimmten Themen aber auch überhaupt nichts zu tun haben oder fühlen sich davon nicht berührt. Sie sagen oft: „Lass mich in Ruhe damit.“ Für diejenigen, für die diese Themen jedoch eine Rolle spielen – unabhängig davon, wie aktiv sie sind – ist es wichtig, dass sie Gehör finden. Es ist bedauerlich, dass viele dieser Menschen in der Stadtgesellschaft nicht repräsentiert sind. Im öffentlichen Raum, etwa in Straßennamen oder Denkmälern, kommen sie kaum vor. Wenn sie erwähnt werden, dann oft nur als Opfer von rassistischen oder rechtsextremen Angriffen. Ich wünsche mir, dass mehr Minderheiten eine Stimme erhalten und gehört werden. Es gibt finanzielle und organisatorische Möglichkeiten, um dies zu ermöglichen und um sie mit Medien und anderen relevanten Stellen zu vernetzen.
Mein Anliegen ist es, einen zeitgemäßen Umgang mit Monumenten und Erinnerungsorten in der Stadt zu finden. Ich hoffe, dass mehr von diesen Gegenmonumenten angenommen und sie nicht als Kampfbegriff oder bloße Symbole verstanden werden. Vielmehr sollten sie als Einladung betrachtet werden, bestehenden Vorstellungen von Monumenten zu dekonstruieren und das starre Bild und die Idee von Monumenten zu hinterfragen. Es gibt eine wachsende Offenheit für unkonventionelle Ideen. Die Gesellschaft befindet sich ständig im Wandel, und es stellt sich die Frage, warum eine Statue sich nicht verändern darf und sollte.

Ich möchte am Ende einen Schritt zurück gehen und Sie fragen, wo und wie Kolonialität in Hamburg für Sie auch jenseits des Umgangs mit der Bismarckstatue wahrzunehmen ist.

Für mich ist die Bismarckstatue ein symbolisches Zeichen für den gesamten Prozess, den wir durchlaufen. Vielleicht spielt auch eine Erinnerung aus meiner Kindheit eine Rolle. Museen waren für mich als Kind aus einer Arbeiterfamilie immer schwer zugänglich. Ich fühlte mich nicht wirklich in die deutsche Mehrheitsgesellschaft integriert, und es gab eine große Kluft zwischen mir und diesen Institutionen. Mein Zugang zu Museen kam hauptsächlich über die Schule und das Studium. Später, mit 27 Jahren, habe ich eine Ausstellung zum Thema umkämpfte Erinnerungsorte in Yangon, Myanmar im Linden-Museum gestaltet. Dabei hatte ich den Anspruch, partizipativ zu arbeiten und habe gemeinsam mit dem Kurator des Linden-Museums überlegt wie die myanmarische Communities einzubeziehen. In der Praxis stellte sich das jedoch als äußerst schwierig heraus. Als ich meine Community, die myanmarische, eingeladen habe, waren sie sehr erfreut, aber letztlich kamen nur wenige zur Vernissage ins Linden-Museum. Ihnen war das Ganze zu akademisch und erschien ihnen nicht als „ihr“ Raum.
Insgesamt würde ich sagen, dass zwei Jahrzehnte nicht ausgereicht haben, um für mich persönlich einen echten Zugang zu diesen weiß geprägten Museen zu schaffen. Auch wenn ich die Möglichkeit hatte, eine Ausstellung zu kuratieren, bleibt dies meiner Meinung nach ein seltener Fall. Der Status quo ist nach wie vor so, dass viele Menschen keinen Zugang zu diesen Institutionen finden. Wenn ich mich manchmal in meinem beruflichen und universitären Kontext umschaue, sehe ich vor allem Menschen, die einen weiß-europäischen, bildungsbürgerlichen Hintergrund haben. Zudem sind viele, vor allem höher gestellte Positionen auch noch in vielen Bereichen von männlich gelesenen Personen besetzt. Nur wenige meiner Mitstudierenden waren Personen of Color. Ich reflektiere gerade darüber und frage mich, ob ich vielleicht zu ambitioniert bin oder ob ich als individuelle Person in einem so etablierten System ohnehin nicht viel bewirken kann.
Mein Gefühl ist, dass ich immer noch festgefahrene, möglicherweise koloniale Strukturen erlebe zum Beispiel durch das Verhalten der Institutionen der Mehrheitsgesellschaft ethnischen Minderheiten gegenüber, die einer „White Supremacy Kultur“ entsprechen. Diese Erfahrungen haben sich tief eingeprägt, selbst wenn ich jetzt in Deutschland als Deutsche lebe. Es scheint fast so, als wären bestimmte Begegnungsorte nur oberflächlich kuratiert und nicht wirklich auf menschlicher Ebene zugänglich.
Dies sind die Folgen von Machtstrukturen, die während der Kolonialzeit etabliert wurden und bis heute wirken. Wenn ich das noch etwas zuspitzen würde, könnte man fast sagen, dass die Versuche von Museen, sich zu öffnen und zu dekolonisieren sowie andere Gruppen zu erreichen, in erster Linie den Institutionen selbst dienen. Die Museen präsentieren sich als offen und engagiert, aber tatsächlich geschieht oft nicht sehr viel für die Communities oder Gruppen, die diese Institutionen normalerweise nicht besuchen würden. Im schlimmsten Fall könnte es sich sogar um eine Form der Instrumentalisierung handeln. Ich befinde mich diesbezüglich immer im Zwiespalt. Museen sind als Konservatorien der örtlichen Kultur zu verstehen, die das öffentliche „Gedächtnis“ quasi archivieren. Im Englischen würde man von Tokenism* sprechen. Es fühlt sich manchmal so an, als könnte ich das Establishment mit dem Label „Diversität“ schmücken. Wenn wir uns als Stadtgemeinschaft mehrstimmig präsentieren wollen, heißt es auch Macht abzugeben. Es braucht auch einen Anfang für Veränderung.
Am Ende hoffe ich auf eine Allianz: Einerseits sollten leise Stimmen gehört werden und durch das etablierte Netzwerk eine Plattform erhalten. Andererseits ist es mir wichtig, dass aus diesen Begegnungen echte Beziehungen entstehen und sie nicht nur als kurzfristige Füller genutzt werden. Idealerweise sollten langfristige Beziehungen und Kollaborationen entstehen. Das wäre für mich eine wirkliche Win-Win-Situation.

*Tokenism
… beschreibt kritisch eine symbolische Geste, bei der Menschen, die aufgrund einer (ihnen zugeschriebenen) „Kategorie“, wie beispielsweise Frau oder Schwarz positioniert, eine Minderheit in einer dominanten Gruppe darstellt. Die davon betroffenen Menschen werden Sie werden dabei lediglich Symbol bzw. als Repräsentant*innen der ihnen zugeordneten Kategorien angesehen. Bestehende Machtverhältnisse werden damit jedoch nicht verändert, sondern eher kaschiert.