Tendai Sichone

Foto: Cécile Ash Photography

Tendai Sichone
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„An manchen vermeintlich harmlos erscheinenden Begriffen klebt eine Gewaltgeschichte, die oft ausgeblendet oder verharmlost wird.“

Interview: Anke Schwarzer, 2024

Woran denken Sie, wenn es um die koloniale Geschichte und dekoloniale Gegenwart in Hamburg geht?

Ich finde es gar nicht so leicht, einen einzelnen ganz konkreten Ort zu benennen. Für mich ist es ein fortwährendes Suchen und Finden, das nie aufhört. Je länger ich mich mit der kolonialen Geschichte befasse, desto öfter stoße ich auf Dinge, Personen, Straßennamen, Institutionen oder Vergnügungsorte, die einen kolonialen Bezug haben.
Mein Interesse an der kolonialen Geschichte wurde während meines Studiums geweckt, als ich als junge Studentin, Anfang 20, zum ersten Mal in geschichtswissenschaftlichen Seminaren von den Ereignissen rund um den Völkermord an den OvaHerero und Nama erfuhr.
Es hat mich tief erschüttert, dass ich davon nichts wusste – besonders als Schwarze Person. Ab diesem Moment habe ich intensiv begonnen, mich mit der kolonialen Geschichte auseinanderzusetzen, da ich es kaum glauben konnte, wie ein so großes Verbrechen gegen die Menschlichkeit geschehen konnte, ohne dass danach eine echte Aufarbeitung stattfand.

Diese Auseinandersetzung führte auch dazu, die vielen unreflektierten und unbewussten Vorstellungen und Bilder zu untersuchen, die nach wie vor in der Sprache und Kultur präsent sind.
Schließlich wurde diese Beschäftigung mit der kolonialen Geschichte zu meinem Beruf. Dabei habe ich immer wieder entdeckt, dass es in der Stadt zahlreiche Spuren gibt – ob es nun Hagenbeck ist oder Straßennamen wie der Woermannstieg oder der Woermannsweg sind: Es gibt sehr viele Bezüge, wenn man tief genug gräbt und sich damit beschäftigt. Und ich habe das Gefühl, dass diese Entdeckungen nie enden – es gibt immer wieder neue Spuren, die man findet. Es hört gar nicht mehr auf.

Welche Spuren rund um den Völkermord an den OvaHerero und Nama sehen Sie in Hamburg? Und haben Sie eine Erklärung dafür, warum dieses Thema so wenig beachtet wird?

Zum Beispiel der Baakenhafen, an dem sich die militärische Logistik, die Verschiffung von Soldaten und Waffen für die deutsche Kolonialherrschaft in „Deutsch-Südwestafrika“ abgespielt hat.
Warum die Aufarbeitung der kolonialen Geschichte nicht erfolgt ist? Ich weiß es nicht genau. Ich denke, dass nach dem Holocaust, der wenige Jahrzehnte nach dem Völkermord an den OvaHerero und Nama stattfand, der Fokus auf diesem unfassbaren Verbrechen an der Menschheit lag. Ohne zu behaupten, dass in der Aufarbeitung des Holocaust alles optimal und gründlich gelaufen ist, so muss ich dennoch sagen, dass die koloniale Geschichte besonders oft verdrängt und relativiert wurde. Das Thema wurde über lange Zeit beiseitegeschoben. Sicher spielt dabei auch Rassismus eine Rolle, denn die Opfer des Kolonialismus, insbesondere Schwarze Menschen, wurden – über Jahrhunderte – nicht richtig anerkannt.

Wie bewerten Sie heute den Umgang der Stadt Hamburg mit den kolonialen Spuren, insbesondere in Bezug auf den Völkermord an den OvaHerero und Nama?

Das Vorgehen ist leider nicht ganzheitlich. In Hamburg wird zum Beispiel über die dekoloniale Umbenennung bestimmter Gebäude und Straßen nachgedacht. Gleichzeitig gibt es unkommentierte Orte wie den Baakenhafen oder die koloniale Neubenennungspraxis von Plätzen und Straßen in der HafenCity. Es wirkt fast so, als würden verschiedene Strategien verfolgt, die nicht im Einklang miteinander stehen. Daher könnte man Hamburgs Ernsthaftigkeit im Umgang mit der Thematik infrage stellen.

Was sollte die Stadt Hamburg Ihrer Meinung nach in Bezug auf die Aufarbeitung tun?

Vielleicht nicht immer irgendetwas unkoordiniert machen, sondern einmal innehalten. Ich denke, es sollte keine politische Agenda verfolgt werden, die dann in verschiedene Richtungen auseinandergeht. Es sollte ein Raum für echte Auseinandersetzung geschaffen werden, der die Menschen einbezieht. Die Stimmen der betroffenen Personen, der Nachkommen und Angehörigen von Kolonisierten, sollten gehört und respektiert werden, und es sollte eine ernsthafte und wertschätzende Diskussion darüber geführt werden, wie man mit diesen Themen, etwa der Umbenennung von kolonial belasteten Straßennamen, umgeht. Das wäre ein wichtiger Schritt.

Wenn Sie an koloniale Spuren in Hamburg denken, fällt Ihnen auch etwas ein, das nicht unbedingt einen räumlichen Bezug hat, sondern sich vielleicht abstrakter oder allgemeiner darstellt?

Ja, aber es fällt mir schwer, das spezifisch auf Hamburg bezogen zu sehen. Der Aspekt der Sprache ist ein wichtiger Punkt. Begriffe, die immer noch kursieren, sind problematisch, etwa das Wort „Mischling“. In meiner Kindheit wurde dieser Begriff oft verwendet, und ich habe ihn sogar als Selbstbezeichnung benutzt, weil er mir so vorgemacht wurde. Als Kind versuchte ich, eine Sprache zu finden, um zu erklären, warum ich so aussehe, wie ich aussehe – auch weil ich das Gefühl hatte, dass es daran ein besonders ausgeprägtes Interesse gab.
Dass hinter diesem Begriff eine rassistische Ideologie, die Vorstellung einer „Rassenmischung“ steckt, ist mir erst später bewusst geworden, ebenso wie seine Verbindung zu Namibia, wo versucht wurde, einen kolonialen „Rassenstaat“ zu errichten. Dort hatte man Beziehungen zwischen Europäerinnen und Afrikanerinnen verboten. Zudem haben dort Kinder, die aus diesen Beziehungen hervorgegangen sind, Stigmatisierung und Gewalt erfahren. Der Begriff „Mischling“ spielte auch im Nationalsozialismus eine Rolle. Es hat mich fassungslos gemacht, dass an solchen vermeintlich harmlos erscheinenden Begriffen so eine Gewaltgeschichte klebt, die oft ausgeblendet oder verharmlost wird.

Wie kann man Ihrer Ansicht nach die koloniale Geschichte in die Gegenwart bringen?

Als Historikerin finde ich es besonders wichtig, dass Menschen erkennen, wie die Geschichte mit ihrem Leben heute verbunden ist. Wenn Kinder und Jugendliche sich mit Begriffen und Sprache auseinandersetzen und dabei feststellen, wie diese Begriffe mit der Kolonialgeschichte verbunden sind, könnte das ein Zugang sein, die Bedeutung der Geschichte in der Gegenwart zu verstehen. Projekte, die diese Verbindung herstellen, sind meiner Meinung nach sehr wertvoll.

Historikerinnen neigen oft dazu, sich auf die Vergangenheit zu konzentrieren, aber für viele Menschen ist der Bezug zur Gegenwart entscheidend.
Ich arbeite selber in einem Museum, im Bereich der Vermittlung und sehe es als eine wichtige Aufgabe der Museen an, eine Treppe oder eine Leiter anzubieten. Dabei ist es wichtig, dass man den Menschen einen Anreiz gibt, sich mit diesen Themen zu befassen. Ein Ansatz könnte sein, dass Museen die Verbindung zwischen Geschichte und Gegenwart stärker in den Fokus rücken, damit Menschen spüren, wie diese Geschichte unser heutiges Leben noch prägt.

Wenn man historische Themen wie den Kolonialismus im Kontext von Hamburg beleuchtet, könnte man diese Themen greifbar machen, auch für Menschen, die sich nicht intensiv mit der Geschichte des 19. Jahrhunderts beschäftigen: Zum Beispiel wurden im 19. Jahrhundert während der Cholera-Epidemie sogenannte „farbige“ Seeleute, also Matrosen, Kohlenschlepper und Heizer aus Afrika oder Asien für die Verbreitung der Krankheit verantwortlich gemacht. Daran könnte man zeigen, wie Rassismus und koloniale Denkmuster auch heute noch Wirkung zeigen, etwa mit dem Verweis auf die Statistiken während der Corona-Pandemie, die zeigten, wie die Gewalt und die Anfeindungen gegen Asiatinnen hochgegangen sind.
Dieser Mechanismus hat mit Rassismus und Antisemitismus zu tun und wiederholt sich. Das haben wir im 19. Jahrhundert, das haben wir zum Beispiel auch im Mittelalter, wenn wir an die Pest und die Angriffe auf Jüdinnen und Juden denken. Damit meine ich diesen Reflex, bei einer Epidemie Schuldige zu suchen und dabei bestimmte Gruppen zum Sündenbock zu machen.