Kim Sebastian Todzi ist Historiker am Arbeitsbereich Globalgeschichte der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der Verflechtungsgeschichte Hamburgs und Westafrikas sowie der postkolonialen Erinnerungskultur.Die Speicherstadt in Hamburg um 1890. Quelle: WikiCommons
Die Speicherstadt in Hamburg um 1890. Quelle: WikiCommons
Tor zur Welt
Hamburg gilt als das „Tor zur Welt“. Häufig wird dabei vergessen oder ignoriert, dass diese Welt bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts eine überwiegend koloniale Welt war und viele Hamburger*innen auch lange vor der Annexion von Kolonien durch das Deutsche Reich ab 1884 von dieser kolonialen Ordnung profitierten.
Bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde Hamburg zum größten Zuckerraffinationszentrum Europas. In Zuckersiederei und Baumwollveredelung gehörten Ende des 18. Jahrhunderts zwei Gewerbe zu den bedeutendsten, die ganz elementar mit dem europäischen Kolonialismus, mit Plantagenwirtschaft und dem Versklavungshandel verbunden waren. Hamburger Kaufleute und Gewerbetreibende waren dadurch direkte Nutznießer*innen des sogenannten transatlantischen Versklavungshandels und der Sklavenwirtschaft in der Karibik und den Amerikas.
Schiffe an den Vorsetzen, Hamburger Hafen, 1883. Quelle: WikiCommons
Schiffe an den Vorsetzen, Hamburger Hafen, 1883. Quelle: WikiCommons
Im Lauf des 19. Jahrhunderts konnten Hamburger Kaufleute durch die Ausbreitung des Freihandels, also der Beseitigung von Handelsmonopolen und anderen Handelshemmnissen, unter der Hegemonie des britischen Empires ihre Handelsaktivitäten weltweit ausdehnen. Hamburgs Wirtschaft expandierte und um 1900 war der Hamburger Hafen der größte Kontinentaleuropas.
Kolonialreichsgründung
Etwas zeitversetzt zum wirtschaftlichen Aufstieg nahm ab den späten 1870er Jahren auch die Forderung nach der Errichtung eines deutschen Kolonialreiches zu. Ende des 19. Jahrhunderts verschärften sich die imperialen Rivalitäten europäischer Kolonialmächte vor allem in Afrika. Beschränkte sich die europäische Kontrolle um 1850 auf wenige Küstengebiete und Südafrika, änderte sich dies in den folgenden Jahrzehnten grundlegend. Beim sprichwörtlichen „Wettlauf um Afrika“ gerieten bis 1914 alle Gebiete Afrikas – außer Liberia und Äthiopien – unter europäische Kontrolle.
In diesen „Wettlauf“ stiegen auch Hamburger Kaufleute unter der Federführung des „königlichen Kaufmanns“ Adolph Woermanns ein. Hamburger Handelshäuser wie C. Woermann, G. L. Gaiser oder Jantzen & Thormählen importierten aus Westafrika Palmöl, Palmkerne, Elfenbein und Kautschuk und exportierten Alkohol, Baumwollwaren, Waffen und Manufakturwaren. Auf der Basis eines von Adolph Woermann entworfenen Konzeptes forderte die Hamburger Handelskammer im Juli 1883 in einer Denkschrift die Regierung des Deutschen Reiches auf, Kolonien in (West-)Afrika zu erwerben. Diese Denkschrift gab Reichskanzler Otto von Bismarck, der Kolonien zunächst selbst eher ablehnend gegenüberstand, eine gute Argumentationshilfe für die folgende Kolonialreichsgründung.
Ab 1884 erwarb das Deutsche Reich dann sogenannte „Schutzgebiete“ in Afrika, Asien und im Südpazifik: dazu zählten u.a. Togo, Kamerun, „Deutsch-Südwestafrika“ (Namibia), „Deutsch-Ostafrika“ (Tansania, Ruanda und Burundi), Kiautschou in China und einige Inseln im Pazifik, die „Deutschen Schutzgebiete in der Südsee“.
Karte des deutschen Kaiserreichs und seiner Kolonien. Quelle: WikiCommons
Karte des deutschen Kaiserreichs und seiner Kolonien. Quelle: WikiCommons
Kolonialmetropole des Deutschen Kaiserreichs
Hamburg stieg in den folgenden Jahren zur Kolonialmetropole des Kaiserreichs auf. Der Hafen verband die Kolonien mit dem Deutschen Reich. Zahlreiche Reedereien – wie die Woermann-Linie oder Deutsch-Ost-Afrika-Linie –, Handels- und Plantagenunternehmen hatten hier ihren Sitz. Kolonialwaren wie Palmöl, Elfenbein, Kaffee, Zimt, Kakao, Bananen und Tee wurden seit 1888 in der neu erbauten Speicherstadt, dem damals größten zusammenhängenden Lagerkomplex der Welt, gelagert und von dort weiterverkauft. Vom Hamburger Hafen liefen die Schiffe aus, auf denen Produkte in die (deutschen) Kolonien exportiert wurden. Das waren neben einem großen Teil hochprozentigen Alkohols vor allem Kleidung und Stoffe aus Baumwolle, Waffen und Munition sowie Salz.
Der Hamburger Hafen wurde aber auch zur Drehscheibe menschlicher Mobilität im Kaiserreich. Hamburg war häufig die letzte Station von Kolonialbeamten, Missionar*innen, Kaufleuten und Siedler*innen, die in die Kolonien gingen. Zugleich war Hamburg die erste Station von Menschen aus den Kolonien, die wie Mpundu Akwa (Sohn King Akwas, einem der Duala-Oberen, die mit den Deutschen einen Schutzvertrag unterzeichneten) für eine Ausbildung oder wie Samson Dido (Mambingo Eyum, der als Prinz Dido aus Didotown von Douala nach Hamburg kam) als Teilnehmer einer von Hagenbeck veranstalteten Völkerschau aus Kamerun nach Deutschland reisten. Diese „Hagenbeckschen Völkerschauen“ gehörten zur kolonialen Kultur Hamburgs und lockten zwischen 1874 und 1930 teilweise über eine Million Menschen zu einzelnen Programmen. Menschen weit entfernter Regionen wurden in klischeehafter Umgebung ausgestellt, um ein vermeintlich authentisches Bild eigentümlicher ‚Wildheit‘ und ‚Fremdheit‘ zu bedienen, das im Kontrast zur ‚eigenen‘ Zivilisation der Zuschauer*innen stehen sollte.
Während des Völkermordes an den Herero und Nama (1904–1908) war Hamburg ein logistischer Knotenpunkt des militärischen Nachschubs. Ab 1901 verfügte die Woermann-Linie dank eines Vertrages mit der deutschen Kolonialverwaltung über das faktische Monopol zur Beförderung von Regierungsgütern nach Deutsch-Südwestafrika. Zwischen 1904 und 1906 verschifften die Woermann-Linie und die Deutsch-Ost-Afrika Linie vom „Petersenkai“ im Baakenhafen mindestens 14.819 Soldaten und 11.065 Pferde. Die Woermann-Linie betrieb ab 1905 sogar ein eigenes „Konzentrationslager“ in Swakopmund und lieh sich vom Gouvernement Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter*innen aus. Die hohen Transportkosten veranlassten Matthias Erzberger (Zentrum) und August Bebel (SPD) 1906 im Reichstag zur Kritik, dass Woermann als „Kriegsgewinnler“ das Reich bei den Frachtraten und Liegegebühren der Schiffe übervorteilt habe, die schließlich zur Auflösung der Verträge zwischen dem Deutschen Reich und der Woermann-Linie führte.
Den Hamburger Anspruch das Tor zur (kolonialen) Welt darzustellen, unterstrich die Errichtung eines eigenen Völkerkundemuseums (1879), das 1912 in seinen repräsentativen Bau an der Rothenbaumchaussee einzog, und die Gründung des Kolonialinstituts (1908), aus dem nach dem Ende des Ersten Weltkrieges die Hamburger Universität hervorging. Diese Institutionen waren eng mit der kolonialen Ideologie und Kultur verbunden, welche die Kolonialherrschaft als „Zivilisierungsmission“ überhöhen und zugleich die Gewaltherrschaft des Kolonialismus verschleiern sollten.
Verlust der Kolonien und Kolonialrevisionismus
Die Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg (1914–1918) beendete auch das deutsche Kolonialreich. Dies bedeute freilich weder das Ende kolonialer Ambitionen Deutschlands noch das Ende der Kolonialherrschaft in den zuvor von Deutschland annektierten Gebieten. Im Frieden von Versailles wurden die ehemaligen deutschen Kolonien wegen erwiesener „Kolonialunfähigkeit“ in „Mandatsgebiete“ umgewandelt, die unter der Kontrolle von anderen Kolonialmächten standen.
In der Weimarer Republik (1918–1933) forderte die neu erstarkte Kolonialbewegung die Rückgabe der ehemaligen deutschen Kolonien und versuchte durch Vorträge, Veröffentlichungen, Konferenzen und Ausstellungen die öffentliche Meinung in Deutschland zu beeinflussen. In Hamburg wurde 1922 beispielsweise eine Statue des Kolonialoffiziers Hermann von Wissmann neben dem Hauptgebäude der Universität aufgestellt um einen zentralen Erinnerungsort für die verlorenen Kolonien zu schaffen, der „an das Streben nach dem Wiedererwerb des überseeischen Kolonialgebiets mahnen“ sollte. Auch wenn die Kolonialbewegung regen Zulauf fand, konnte sie keine größeren politischen Erfolge verbuchen. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten hofften Vertreter*innen der Kolonialbewegung auf eine neue Möglichkeit die verlorenen Kolonien zurückzuerobern. Für die Nationalsozialisten waren überseeische Kolonien jedoch nur von untergeordneter Bedeutung. Der geografische Ort des deutschen Kolonialismus änderte seine Richtung und rückte vom Globalen Süden in den Osten Europas. Historiker*innen wie Jürgen Zimmerer interpretierten diese unter anderem im „Generalplan Ost“ angelegte Verschiebung als „Neuordnung von Raum auf Grundlage von ‚Rasse‘“. In den besetzten polnischen und sowjetischen Gebieten sollten Firmen, die in überseeischen Kolonien Erfahrung mit „primitiven Verhältnissen“ gesammelt hatten, angesiedelt werden. So übernahmen Hamburger Firmen wie G. L. Gaiser in ostpolnischen Kreisen den Aufbau eines Netzes von Niederlassungen „analog ihrem afrikanischen Faktoreigeschäft“.
Erinnerungskulturelle Debatten
Die umfassende Niederlage im Zweiten Weltkriegs (1939–1945) beendete die Geschichte der deutschen Kolonialherrschaft endgültig, wenngleich koloniale Fantasien und Denktraditionen und Relikte kolonialer Kultur und Ideologie damit noch lange nicht beendet waren.
Davon zeugen auch Spuren in Hamburg, die bis heute präsent und Teil einer gesellschaftlichen Beschäftigung mit der Gegenwart der Kolonialgeschichte sind. Bereits mit der 68er-Bewegung begann eine kritische Auseinandersetzung mit der (post)kolonialen Erinnerungskultur in Hamburg. Studierende stürzten 1967 und 1968 das Wissmann-Denkmal vor der Hamburger Universität. Den Protestierenden ging es neben einer Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte aber vor allem um eine gegenwartsbezogene Imperialismuskritik: Die Zeit der Kolonialisierung war ja noch nicht vorbei, die BRD unterstützte Portugal in den Kolonialkriegen gegen die Befreiungsbewegungen in Angola, Moçambique und Guinea-Bissau mit Waffenlieferungen.
Askari Relief. Foto: © Kim Sebastian Todzi
Askari Relief. Foto: © Kim Sebastian Todzi
Seit Ende der 1990er Jahre ist der Umgang mit dem kolonialen Erbe in Hamburg Gegenstand einer regen gesellschaftlichen Debatte. Eine größere Öffentlichkeit erreichte die Kontroverse um den „Tansania-Park“ in Hamburg Jenfeld. Dort wurden durch einen privaten Kulturkreis Denkmäler aus der NS-Zeit wiedererrichtet, die afrikanische Kolonialsoldaten („Askari“) zeigten. Die rassistischen Skulpturen, die im Nationalsozialismus während der Aufrüstung der Wehrmacht für den Zweiten Weltkrieg sowie im Dienste des Kolonialrevisionismus aufgestellt wurden, sollten im „Tansania-Park“ absurderweise als Symbol deutsch-afrikanischer Völkerverständigung fungieren. Die Eröffnung geriet zum Eklat, der tansanische Ministerpräsident sagte seinen Besuch wieder ab.
Diese und ähnliche Auseinandersetzungen führten 2014 zu dem Entschluss des Hamburger Senats, die Aufarbeitung des Kolonialismus in Hamburg und damit einen neuen Start der postkolonialen Erinnerungskultur zu beginnen. 2017 wurde dazu ein Beteiligungsprozess gestartet und 2019 ein Beirat zur Dekolonisierung Hamburgs einberufen, der im Februar 2021 ein erstes Eckpunktepapier für ein dekolonisierendes Erinnerungskonzept vorstellte.
September 2020